Warum erst jetzt?
Warum erst jetzt?
Manchmal ist es wie verhext. Du quälst dich ein halbes Leben lang mit irgendwas herum und dann plötzlich öffnet sich eine Tür und alles rutscht an seinen Platz. Sämtliche Zusammenhänge, denen du jahrelang hinterher gelaufen bist, lösen sich auf. Was wie hinter dunklen Vorhängen deinem Blick verborgen blieb, siehst du mit einem Mal glasklar vor dir.
Weißt du, was ich meine? Hier ein Beispiel:
Ich koche gerne. Alltagsküche. Habe ich eigentlich immer. Mit zunehmendem Alter war es nur so, dass ich eine größer werdende Anzahl von Lebensmitteln nicht mehr vertragen konnte. Zuerst Knoblauch, dann diverse Milchprodukte, Olivenöl und so weiter…
Ich weiß, dass es vielen Frauen ebenso ergeht. Immer mehr Unverträglichkeiten machen uns das Leben schwer. So war es auch bei mir.
Ein Gespräch diesbezüglich mit meiner Hausärztin ergab lediglich, dass auch bei ihr schon viele Lebensmittel auf der roten Liste standen. Na toll….
Vor allem Gebratenes vertrug ich überhaupt nicht mehr. Egal, welches Fett ich benutzte, Magen und Darm taten sich mit der Verarbeitung schwer.
Irgendwann war ich soweit, dass weder das Kochen noch das Essen mir überhaupt noch Freude machten. Musste ich mich doch nach jeder größeren Mahlzeit mit Verdauungsbeschwerden unterschiedlichster Art herumquälen.
Bis mir in einer kleinen Bücherei ein unscheinbares ayurvedischen Kochbuch in die Hände fiel.
Ich fand ein Rezept, wie man aus Butter Ghee (ein besonderes Butterschmalz) selbst herstellen konnte. Da ich nichts mehr zu verlieren hatte, kaufte ich umgehend zwei Pakete Butter und machte mich an die Arbeit. Heraus kam eine goldene Flüssigkeit, die nach dem Abkühlen fest und hellgelb wurde, hübsch aussah und sehr gut roch.
Dann kam die Feuerprobe. Ich probierte es aus.
Und siehe da, eine Pfanne gebratener Champignons mit Zwiebeln, gut gewürzt, machte mir auf einmal keine Probleme mehr.
Warum bin ich denn erst jetzt darauf gekommen, es einmal mit Ghee zu versuchen?
Ich wusste doch schon lange, dass es Ghee gibt. Und den Ayurveda. Er erschien mir nur immer viel zu kompliziert, um mich damit zu beschäftigen. Jetzt plötzlich nicht mehr. Ich wollte unbedingt mehr darüber wissen. Vermutlich war der Leidensdruck inzwischen hoch genug, dass ich mich endlich dran traute. Nach dieser einschneidenden Erfahrung erschloss ich mir nach und nach tiefere Einblicke in ein Lebenskonzept, dass eine typgerechte heilsame Ernährungs- und Lebensform bietet. Eine riesige Bereicherung für meine Küche und für meine Gesundheit. Jetzt! Nicht erst jetzt!
Stellst du dir die Frage „Warum erst jetzt?“ auch manchmal?
Ich denke, dass diese Frage eine stete Begleiterin auf dem Weg des Älterwerdens ist. Wir alle kennen das Phänomen, wenn uns – manchmal völlig unerwartet – der Blitzt trifft und sich ein neuer Horizont öffnet.
Wenn es sich lediglich um etwas handelt, was uns selbst betrifft, uns vielleicht eine Zeitlang das Leben unbequem gemacht hat, ist es recht einfach, sich die frühere Begrenztheit zuzugestehen. Schwieriger wird es, wenn andere Menschen unter unseren begrenzten Sichtweisen und Verhaltensmustern gelitten haben. Besonders trifft dies auf unsere Kinder zu. Dann können späte Erkenntnisse bitter weh tun. Da kann sich ein tiefes Bedauern vergangener Situationen auch schonmal festsetzen. Da geht so manche Frau durch ein Tal der Tränen.
Was hilft uns da raus?
Das Zauberwort an dieser Stelle lautet „Vergebung“. Auch und vor allem uns selbst.
Vergebung ist eines der Dinge, die wir nicht „machen“ können. Aber wir können aufrichtig auf die vergangenen Situationen schauen. Wir können uns durch sie hindurch fühlen.
Werde dir zunächst selbst darüber klar, dass du alles zu der gegebenen Zeit so gut gemacht hast, wie es dir möglich war. Du hättest es nicht besser machen können. Du hattest die Mittel, die Einsichten und den Weitblick nicht. Vielleicht warst du auch durch die bestehende Lebenssituation überfordert.
Räume in Gesprächen mit den Kindern (oder anderen Betroffenen) ein, dass du heute in vergleichbaren Situationen andere Entscheidungen treffen würdest. Daraus sollte jedoch keine Endlosschleife werden. Ein wichtiger Lerneffekt für alle Beteiligten hierbei ist, dass wir Menschen nun mal unvollkommen sind. Niemand hat die Weisheit für sich gepachtet. Noch dazu unterliegen wir höheren Kräften, die sich uns – eben durch Erkenntnisse und Offenbarungen – jeweils zu ihrer Zeit erschließen. So werden wir durch jede Erkenntnis, die wir gewinnen ein Stückchen mehr vollkommen. Ein Stückchen mehr weise. Ein Stückchen mehr heil. Darum sind Erkenntnisse so wertvoll! Und sie kommen nun mal genau dann, wenn sie dran sind.
Die Frage „Warum erst jetzt?“ ist ein Konstrukt des Verstandes und dafür prädestiniert, einer wertvollen Erkenntnis ihren Zauber zu nehmen.
Problematisch dabei ist, dass das Wörtchen erst eine ungesunde Bewertung von Erkenntnissen und Offenbarungen ist. Es zeugt davon, dass wir das Leben in seiner Großzügigkeit noch nicht annehmen können und uns permanent in einer Art Wettbewerb befinden.
Unsere Vorstellung von (Lebens-) Geschwindigkeiten und Reihenfolgen entstammt Konditionierungen, die über Generationen hinweg weitergegeben wurden und immer noch werden. Wir sollten sie einmal überprüfen. Für die Meisten von uns haftet dem Lernen aus Erfahrungen der Makel des Fehlers an. Auch diese Haltung ist ein gedankliches Konstrukt. Denn das Lernen aus Erfahrungen bietet uns großartige Gelegenheiten, das Leben tiefer zu verstehen. Und das ist altersunabhängig und in jeder Lebensphase möglich.
Wenn uns eine Erkenntnis trifft, dann tut sie das immer genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie dran ist.
Manchmal setzt das Verstehen um einen Umstand vielleicht schon etwas früher ein, die Erfahrung kommt jedoch genau dann, wenn alles perfekt dafür vorbereitet ist.
Wir brauchen eine solide Basis, auf der Erkenntnisse und Offenbarungen auf fruchtbaren Boden treffen können. Vorausgegangene Erfahrungen und die wachsende Bereitschaft, das Leben in seiner komplexen Form wirklich anzunehmen, bilden diese Basis.
Die Bereitschaft zur Stille ist ebenso wichtig wie die Bereitschaft, auch die unangenehmen Aspekte des Lebens im vollen Umfang zu spüren. Sie gehören nun mal zu den Lebenszyklen dazu. Ob uns das gefällt oder nicht.
Meist sind wir in jungen Jahren mit vielen Dingen beschäftigt. Wir engagieren uns im Beruf, bauen vielleicht ein Haus, gründen eine Familie und so weiter. Dagegen ist auch nichts zu sagen, solange wir tägliche Regenerations- und Stille- Zeiten mit berücksichtigen. Den Meisten mangelt es jedoch genau daran.
Erkenntnisse und Offenbarungen fordern eine Bereitschaft, uns immer wieder vom permanenten Machen und vom Lärm der Welt zurückzuziehen.
Das tut in jungen Jahren kaum jemand freiwillig. Jedoch ist ein lärmender, unruhiger Geist hier kontraproduktiv.
Erst wenn wir – vielleicht durch Krankheit, Burnout oder eben durch das Alter – vom Leben gezwungen sind, still zu werden und mit dem Machen einmal aufzuhören, brechen Erkenntnisse über uns herein. Und dann sind es in kürzester Zeit oft mehr als uns lieb ist. Das kann uns dann auch schon mal überfordern. Dennoch ist es so wertvoll, weil wir in gewisser Weise „zu uns kommen“.
Wenn wir irgendwann feststellen, dass unsere Kräfte nachlassen, dass wir älter und irgendwann alt sind, ist das wie eine offene Tür für Einsichten, die uns bisher verborgen waren.
Genau darin liegt eine der großen Chancen, die das Älterwerden mit sich bringt. Wir reifen im wahrsten Sinne des Wortes. Wir werden Weise, sofern wir uns offen halten für neue Sichtweisen. Alte Standpunkte loslassen. Die zweite Lebenshälfte ist die Zeit für Erkenntnisse und das Wachsen in eine höhere Bewusstheit.
JETZT ist die Zeit.
JETZT geschieht Wachstum.
JETZT ist es so weit. Nicht erst jetzt.
In diesem Zusammenhang ist das Wort erst nur ein Gedanke, eine Bewertung, die uns weismachen will, dass wir mit irgendwas „spät dran“ sind. Lasse diesen Gedanken nicht die Oberhand gewinnen. Wenn du kannst, lasse ihn los. Dieses „spät dran“ gibt es in Wirklichkeit nicht.
In der Bibel gibt es ein Gleichnis, in welchem ein Gutsbesitzer Arbeitskräfte für seinen Weinberg suchte. Am frühen Morgen ging er auf den Markt und heuerte einige Arbeiter an, mit denen er für das Tagesende einen bestimmten Lohn vereinbarte. Sie gingen zum Weinberg und fingen mit der Arbeit an. Ein paar Stunden später ging er nochmal auf den Markt und es waren immer noch Arbeitskräfte dort, die nichts zu tun hatten. Er heuerte auch diese an und sie gingen ebenfalls los, um im Weinberg zu arbeiten. Der Winzer ging bis zum Abend noch mehrmals zum Markt und heuerte Arbeiter für seinen Weinberg an. Am Abend bekam jeder der Arbeiter denselben Lohn. Natürlich beschwerten sich diejenigen, die schon am Morgen mit der Arbeit angefangen hatten. (Matthäus 20, 1-16)
Ein Angriff auf unseren Sinn für Gerechtigkeit! Oder?
Ich behaupte, dass es nicht darum geht, wann wir welche Einsichten und Erkenntnisse erlangen. Es geht vielmehr darum, dass wir sie erlangen. Dass wir reifen. Es geht darum, dass wir Einsichten annehmen können und fortan in einer größeren Bewusstheit leben. So geschieht inneres Wachstum. Und dafür ist es nie zu spät.
Noch ein kleiner Hinweis: In meinem Buch „Der Kern des Yoga bin ich Selbst“ ist der Frage „Warum erst jetzt?“ ein eigenes Unterkapitel (Kap. 8.1.) gewidmet. Lohnt sich zu lesen.
Herzliche Grüße und eine gute erkenntnisreiche Zeit,
Deine Daniela
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