Als ich am 16. November 2005 zum ersten Mal in die praktische Heilpraktikerprüfung ging, war ich bestens vorbereitet. Ich hatte zweieinhalb Jahre lang jeden Tag gelernt. Mein medizinisches Wissen war nie wieder so auf dem Punkt, wie an diesem Tag. Die Theorie hatte ich auf Anhieb bestanden. Ich war gut drauf und bereit für die Prüfung. Was konnte noch schiefgehen? Zwei Freundinnen, ebenfalls Heilpraktikeranwärterinnen, begleiteten mich zum Termin, gefühlte 1000 Menschen drückten mir die Daumen. Ich ging in den Prüfungsraum. Nach knapp 15 Minuten war alles vorbei. Ausgeträumt! Die Prüfer hatten die Lücke gefunden. Es war eine Kleinigkeit.
Ich wusste, dass die allermeisten Heilpraktiker – Anwärter bei der ersten praktischen Prüfung durchfallen. Die beiden Freundinnen, die mich begleitet haben, fielen ebenfalls in ihrem ersten Versuch durch. Dieses Wissen war allerdings kein Trost. Trost für was überhaupt? Für mich war es nicht nur eine Enttäuschung, es war peinlich ohne Ende.
Ich schämte mich
Mein Herz fühlte sich an, als sei ein Bagger drüber gefahren. Ich schämte mich. Die Scham ist ein, seit ich Gefühle wahrnehmen kann, mir allzu vertrautes Gefühl. Heute tat sie weh. Und sie tat so weh, dass ich froh war, als es endlich alle wussten und ich meinen normalen Alltag weiterleben und so tun konnte, als sei nichts passiert.
Dabei ist es extrem anstrengend, überall so zu tun, als sei alles „nicht so schlimm“ wenn es tief innen drin zündelt.
Wenige Wochen später hatte ich einen massiven gesundheitlichen Einbruch. Ich landete am Neujahrstag 2006 als kardiologischer Notfall auf der Intensivstation, zwei Tage später (an meinem vierzigsten Geburtstag) wurde ein Eingriff am Herzen vorgenommen. Danach ging lange Zeit garnichts.
Jetzt hatte ich Zeit zum Nachdenken.
Kummer, Groll, Angst, Schuldgefühle und vor allem Scham, die ich Zeit meines Lebens tief in mich hineingefressen hatte, wurden zuviel für mein Herz. Es hatte rebelliert.
Was passiert, wenn ich mich schäme? Vor allem: Was passiert, wenn ich mich schäme und sich alles in mir dagegen sträubt, diese Scham zuzulassen, sie zu fühlen? Wenn ich alles daran setze, sie so zu kaschieren, dass es möglichst niemand mitbekommt. Warum ist die Scham für viele von uns ein so vernichtendes, ein so unaushaltbares Gefühl? Es gibt Menschen, die ihr Leben beenden, wenn sie mit ihrer tiefsten inneren Scham konfrontiert sind.
Fakt ist: Scham hat ihre Berechtigung. Es gäbe sie nicht, wenn sie nicht irgendeine Funktion hätte. Dazu komme ich später.
Das schäbige Spiel mit der Scham: Die Beschämung
Ich nehme an, dass unsere Unfähigkeit, mit Scham angemessen umzugehen, damit zu tun hat, dass unser Schamgefühl (und das ist bei den allermeisten Menschen unserer Generation der Fall) komplett missachtet und für Konditionierungszwecke missbraucht wurde, seit wir es als Kind entwickelten. Beschämung ist hier der Begriff, den nahezu jede/r zu Genüge aus eigener Erfahrung kennt. Kaum, dass wir in der Lage waren, Scham über irgendetwas zu empfinden, wurde Beschämung durch unsere Eltern und andere Ältere zum beliebten Gegenstand unserer Erziehung. Es begann mit Zurechtweisungen vor anderen oder das Bloßstellen bei Ungeschicklichkeiten, ging über Nikolausfeiern, bei denen die Kinder zur Unterhaltung der Erwachsenen vorgeführt wurden bis hin zu körperlichen Übergriffigkeiten.
In der Schule ging es weiter. Unordentliche Schultaschen wurden von Lehrern ausgekippt, schlechte Noten in Klassenarbeiten mit entsprechenden Bemerkungen vor versammelter Klasse an den Schüler zurückgegeben. Zwei Beispiele, die auch meine Kinder während ihrer Schulzeit noch erlebt haben. Die Liste ist unendlich.
Ein Riesenthema: Scham in der Pubertät
Dann die Pubertät. Pubertierende Mädchen (und auch Jungen) wurden zum Gegenstand s*xistischer Witze und nicht selten vor anderen der Lächerlichkeit preisgegeben. Bei den Mädchen war der Busen zu prall oder zu klein, der Po zu groß oder zu flach, die Beine zu kurz, zu dick oder zu dünn. Irgendwas war immer nicht richtig. Bei den Jungen gereichte ein spärlicher Bartwuchs zur allgemeinen Erheiterung und manchmal stülpte sich vorne die Hose aus… in den 1970ern und 1980ern (in denen ich pubertierte) trug all dies völlig selbstverständlich zur – oft lautstarken – Belustigung vieler, vorwiegend männlicher Erwachsener bei.
Was geschieht mit einer so feinen und zarten Emotion wie der Scham, wenn das Beschämen instrumentalisiert und irgendwann als normaler Vorgang im menschlichen Miteinander erlebt wird? Die anhaltende Verletzung der Schamgrenzen führt zur völligen Verzerrung der Wahrnehmung. Wenn die Würde eines Menschen, die ja laut Grundgesetz unantastbar ist, von Anbeginn seines Lebens an missachtet und torpediert wird, richtet das gewaltigen Schaden an. Niemand übersteht einen wiederkehrend entwürdigenden Umgang ohne Spätfolgen.
Wenn uns das Schamgefühl verloren geht
Aber was geschieht, wenn wir unser Schamgefühl so sehr unterdrücken, dass wir nicht mehr mit ihm in Kontakt sind? Manche Menschen versuchen, in peinlichen Situationen durch Selbst-Erniedrigung oder Ungehemmtheit ihrer eigenen Scham zuvor zu kommen. Sie geben sich selbst dem Spott Anderer preis und kehren auf diese Weise die passive Opferrolle in eine aktive Rolle um. Spüren wir unsere Scham nicht mehr, oder sind die Schamgrenzen allzu sehr verzerrt, kann es passieren, dass wir auch unser Mitgefühl nicht mehr spüren. Dann gehen Einfühlungsvermögen und Empathie zunächst für uns selbst und infolgedessen für andere verloren. Die Folgen daraus kannst du dir ausmalen.
Wenn wir uns schämen, verändert sich die Chemie in unserem Körper. Wir erröten, spüren diverse Stressreaktionen im Körper. Der Scham gesellen sich gerne Schuldgefühle oder Angst hinzu. Der Atem stockt. Manchmel geht sie auch Hand in Hand mit Wut oder Hass. Wenn ich mich im öffentlichen Raum schäme, ist das für andere sichtbar. Das macht es noch schlimmer.
Besonders im Bereich der S*xualität ist Scham bis heute ein riesiges Thema. Wir haben zwar S*x miteinander aber selbst langjährige Ehepartner können voreinander kaum ihre Körperteile angemessen benennen, geschweige denn, was sie tun oder sich voneinander wünschen. Immer noch erleben viel zu viele Frauen s*xualisierte Gewalt. Einen gröberen Angriff und eine üblere Missachtung ihrer Schamgrenzen gibt es kaum.
Der Nutzen des Schamgefühls
Nun möchte ich aber zumindest kurz auf den Nutzen unseres Schamgefühls zu sprechen kommen. Scham ist die Wächterin, die Aufpasserin meiner Intimität. Sie passt auf mein tiefstes persönliches Feld und auf meine innersten Kostbarkeiten auf. Scham hilft Menschen, zu unterscheiden, wem sie ihr Innerstes, ihre Intimität zeigen möchten – und wem nicht! Diese Fähigkeit macht die Scham in unserer Gefühlsladschaft unersetzlich.
Scham und verletzte Würde können im Körper lange überdauern, wie ich selbst schon häufig feststellen musste. Die zur Normalität gewordenen tausendfachen Beschämungen haben sich im Körper Orte gesucht, an denen sie auf ihre Chance warten, doch noch gewürdigt, gefühlt und somit geheilt zu werden. Allerdings ist es möglich, dass die Scham im Kleidchen anderer Gefühle daherkommt. Der Tiefe Ursprung von Schuld, Wut, Angst oder einem Gefühl der Gefühllosigkeit kann alte, tiefe, seit Jahrzehnten verdrängte Scham sein. Besonders dann, wenn wir überbordende oder dumpfe, quälende Gefühle nicht zuordnen können, macht es Sinn, eine Verbindung zum eigenen Schamgefühl herzustellen. Das geht leichter in Begleitung eines vertrauten Menschen in einem sicheren Umfeld.
Überdauerte Scham im Körper und die Möglichkeit der Heilung
Aus Erfahrung weiß ich, dass es eine tiefe Ebene in uns gibt, die heil ist. Die somit auch frei von den verletzenden Erfahrungen und Einflüssen der frühen Jahre ist. Es gibt eine heile Stelle in jeder von uns. In Meditationen können wir mit dieser heilen Stelle in Kontakt kommen. Auch Yoga, traumasensibel angeleitet, kann uns ins Fühlen bringen. Alleine das Fühlen lässt zu, dass sich alte Verletzungen aus ihrer Erstarrung im Körper lösen können. Dann ist der Weg frei, dass sie nur durch den Prozess der Beobachtung und der Annahme durch uns ihre Macht verlieren. Das Licht tief in uns lässt nicht zu, dass noch irgendein unerwünschter Gast im Verborgenen bleibt. Auch Jahrzehnte überdauerte Scham kann auf diese Weise ihre Herrschaft über uns nicht mehr aufrechterhalten.
Ich finde, dass das gute Nachrichten sind.
Achja, und übrigens: Am 30. Mai 2006 habe ich die praktische Prüfung als Heilpraktikerin bestanden.
Wenn du Unterstützung brauchst, um mit deiner Gefühlslandschaft vertrauter zu werden oder ein wenig Ordnung in ihr zu schaffen, dann melde dich gerne bei mir.
In diesem Sinne
Alles Liebe …
Deine Daniela
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Ich mag Ihre Blogartikel, danke dafür.
Wichtig, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen. 🙏🏽👏🏼👍🏻
Vielen lieben Dank für das tolle Feedback.
Ja, wir nehmen die Wirkung der verdrängten, jedoch bei allem „mitschwingenden“ Gefühle (Angst, Scham, Schuld,etc.) noch zu wenig wahr. Erst wenn wir bereit sind, sie zu fühlen, werden wir wirklich frei in unseren Lebensentscheidungen sein.