
Mitleid oder Mitgefühl – Wie geht es mir, wenn es dir schlecht geht?
Mitleid oder Mitgefühl? – Darf es mir gut gehen, wenn es dir schlecht geht?
Eine Freundin erkrankt schwer. Die Verzweiflung steht ihr im Gesicht geschrieben. Der Nachbar hat den Job verloren. Er weiß nicht, wie es weiter gehen und wovon er in Zukunft seine Miete zahlen soll. Der 9-jährige Junge aus dem Haus gegenüber muss tagsüber stundenlang alleine zurechtkommen. Die Mama ist alleinerziehend und ihr Job verlangt, dass sie bis 18 Uhr im Dienst ist. Oft steht er mit traurigem Gesicht am Fenster. Es zerreißt einem das Herz.
Du kennst so etwas. Wie geht es dir damit?
Von mir kann ich sagen, dass ich sehr dazu tendiere, in das Leiden der anderen einzusteigen. Jegliche Abgrenzung gelingt, wenn dann, nur mäßig. Gerade wollte ich die traurige Geschichte nicht so nah an mich heranlassen, spüre ich, dass sie bereits den Weg in mein Herz gefunden hat. Und jetzt? Passiert dir sowas auch?
Mitleid oder Mitgefühl – Wo ist da er Unterschied?
Löst die prekäre Situation eines anderen Menschen in mir einen Leidensdruck aus, so kann ich getrost von Mitleid im Sinne von „Ich leide mit dir“ sprechen. Ich fühle mich irgendwann genauso schlecht wie der Mensch, der gerade durch eine schwere Etappe gehen muss. Oder noch schlechter!Das kann bis zum Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit führen.
Erlaube ich mir hingegen, aus der tiefen Verbindung zu mir selbst heraus auf die Situation des Leidenden zu schauen, löst dies in mir nicht zwingend einen Leidensdruck aus. Aus eigenen schweren Lebensepisoden weiß ich, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Darum ist mein Mitgefühl aufrichtig. Möglicherweise habe ich sogar konstruktive Ideen, was die betroffene Person verändern könnte, um wieder in freundlicheres Fahrwasser zu finden.
Ich weiß das und es gelingt mir auch zunehmend. Das war aber nicht immer so.
Als ich noch in der Familienhilfe gearbeitet habe, lag ich so manche Nacht schlaflos und sann darüber nach, ob ich für das Kind im Hilfeplangespräch wirklich das Beste herausgeholt habe. Das Leiden einiger Kinder sprengte meine Vorstellungskraft und so wollte ich alles dafür tun, seine Situation zu verbessern. Manchmal dachte ich, dass ich nicht wirklich glücklich werden kann, solange es noch ein einziges unglückliches Kind auf der Welt gibt.
Mitleid, Mitgefühl und Körperverbindung
Um nicht in einen Strudel aus Mitleid zu geraten, ist eine gute und stabile Körperverbindung notwendig. Sie ist deshalb so wichtig, weil unser Körper uns unmissverständlich mitteilt, ob wir auf dem besten Wege sind, das Leiden der Anderen zu unserem eigenen zu machen.
Mitleid oder Mitgefühl? – Eine Frage, die wir uns stellen können, hilft möglicherweise dabei, früh zu erkennen, ob wir uns allzu sehr in das Leiden anderer hineinziehen lassen:
Was macht dein Leiden mit mir? bzw. Was löst dein Leiden in mir aus?
Möglicherweise wird etwas in uns durch die Art des Leidens der anderen Person angetriggert. Eigenes unverarbeitetes Trauma meldet sich plötzlich. Dann kann es passieren, dass ich tiefer in die Geschichte des Anderen hineingerate, als mir gut tut. Die Grenzen verschwimmen gerne und plötzlich hängen wir in den Verstrickungen, in die wir unabsichtlich hineingeschlittert sind, ganz schön fest.
Es gibt Menschen – und das kenne ich aus eigener Erfahrung auch – die ertragen das Leiden anderer so wenig, dass sie deren Bürde lieber auf die eigenen Schultern nehmen. Kein Wunder, wenn der Körper irgendwann die Reißleine zieht und dann erstmal nichts mehr geht.
In unserem Gehirn sind es (vereinfacht gesagt) die Spiegelneuronen, die dafür verantwortlich sind, dass ich fühlen kann, was du fühlst.
Mitleid oder Mitgefühl? – Hänge ich schon wieder zu tief drin?
Und was kann ich für mich tun, wenn ich zu tief in das Leiden anderer hineingeraten bin?
- Zunächst macht es Sinn, dass ich es mir in vollem Umfang eingestehe. Es ist schon wieder passiert!
- Im zweiten Schritt kann ich ein paar Soforthilfen ausprobieren:
- Der klassische Spaziergang in der Natur hilft nachweislich.
- Hilfreich ist alles Erdende. Hierzu lies auch gerne den Artikel zum Thema Erdung.
- Sehr dienlich finde ich, gerade wenn man in einem helfenden Beruf arbeitet, Supervision in Anspruch zu nehmen.
- Manchmal kann es Sinn machen, eine Zeitlang Zusammenkünfte mit dem von Leid betroffenen Menschen zu minimieren. Besonders hochsensible Menschen brauchen ausreichende Zeiten der Regeneration.
- Sich zwischendurch etwas Schönes gönnen, kann auch helfen.
- Pflege Umgang mit Menschen, die nicht in den Leidensprozess involviert sind.
Grundsätzlich hilft es, zu verstehen, dass schwere Etappen zum Leben generell dazugehören. Das gilt für alle Menschen. Wir alle sind schon durch schwere Episoden gegangen. Diese lassen uns wachsen. Würden wir ausschließlich durch rosige Zeiten gehen, so würde unser inneres Wachstum ins Stocken geraten. Wichtig dabei ist, zu wissen, dass schwere Zeiten immer Streckenabschnitte sind. Sie haben einen Anfang, einen Verlauf und – sofern wir konstruktiv hindurch gehen – ein Ende. Was hält uns also zurück, dies auch den anderen Menschen zuzugestehen?
Leidest du aufgrund der Weltlage?
Die Situation in der Welt lädt zurzeit förmlich dazu ein, in Leidenszustände zu geraten.
Morgens, im Anschluss an meine Morgenroutine, schalte ich üblicherweise mein Handy an. Was hat sich getan seit ich es gestern Abend ausgeschaltet habe? Was ist passiert beim großen Bruder Amerika? Oder an der europäischen Kriegsfront? Was geschieht in der landeseigenen Politikwelt? Wer führt etwas gegen die „Omas gegen Rechts“ im Schilde? Wir bekommen alle Schlagzeilen frisch an den Frühstückstisch serviert. Das Internet schläft nie. Da kann einem das Toast schon mal im Hals stecken bleiben.
Wenn wir mental gesund bleiben wollen, werden wir mehr und mehr auf tägliche Selbstfürsorge angewiesen sein. Ein tägliches „Zur Ruhe kommen“ ist unter diesen Umständen kein Luxus, sondern pure Notwendigkeit. Die Verantwortung hierfür liegt bei jeder und jedem Einzelnen. Darum ist es gut, zu überprüfen, was dich mit deinen Kraftressourcen wieder in Verbindung kommen lässt, nachdem dich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Bei mir ist es meine ausgedehnte Morgenroutine (ohne Handy oder andere Medien) inklusive Yoga und Meditation. Diese Me-Time ist mein tägliches Löffelchen Medizin, mithilfe derer ich Kraft schöpfe, um allem zu begegnen, was von Außen auf mich einstürmt. Außerdem liebe ich die tägliche Bewegung draußen, gute Gespräche mit Thomas und generell immer wieder das Beisammensein mit meinen Menschen. Frage dich einmal selbst, was es bei dir ist?
Das eigene Leiden kultivieren?
Ich weiß, dass es auch ZeitgenossInnen gibt, die ihr Leiden regelrecht kultivieren. Menschen, die sich ohne einen gewissen Leidensdruck nicht wertvoll und auch irgendwie nicht wohl fühlen. Sie suchen in der Welt eher nach Mitleid als nach Liebe. Manchmal treiben sie ihre Spielchen mit dem Mitgefühl anderer. Du erkennst diese Menschen daran, dass sie resistent gegen alles sind, was ihr Leiden erträglicher machen oder es tatsächlich mindern würde. Jeder Verbesserungsvorschlag prallt an einer Mauer von Gegenargumenten ab. Sie haben keine Zeit für einen Spaziergang in der Natur, kein Geld, um sich hin und wieder eine Massage zu gönnen, finden Meditieren langweilig und gehen bei Regen nie nach draußen, weil sie dann nass werden könnten. Und so weiter…
Wir können sie nur gewähren lassen, müssen uns aber nicht von ihnen mit in ihre Leidensburg hineinziehen lassen.
Wenn du erkennst, dass ein Mensch in deinem Umfeld gerade durch eine schwere Etappe geht und du helfen möchtest, so überprüfe zunächst, ob deine eigene Situation es zulässt, dass du aktive Hilfe leistest. Im zweiten Schritt schaue, was du für diese Person tun kannst, ohne in den ungesunden Sog einer Negativspirale zu geraten. Gehe in einen Dialog mit der betroffenen Person und frage sie, was ihr helfen könnte, sich besser zu fühlen. Danach schau, ob es passt und du etwas für sie tun kannst. Leiste vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.
Mitgefühl – Ich möchte dir helfen
Wir alle wollen helfen. Der Wunsch, andern zu helfen, ist in uns angelegt. Sogar Kinder spüren ein Bedürfnis, anderen zu helfen. Kinder fühlen (und leiden) auch in besonders hohem Maße mit. Hierfür brauchen sie zunächst uneingeschränktes Verständnis. Es ist gut, ihnen von Anfang an einen bewussten Umgang mit dem Leiden anderer zu vermitteln. Allerdings sind es auch die Kinder, die nach einer schweren Phase recht schnell wieder fröhlich sein können. Daran sollten wir sie auch nicht hindern. Nach einem Besuch bei dem schwerkranken Opa möchten sie vielleicht raus auf den Spielplatz oder Fußball spielen. Es ist ihre Form von Selbstregulation. Hier dürfen wir sie zum Vorbild nehmen. Ihr Verhalten erinnert uns daran, dass immer beides da ist. Trauer und Freude, Fragilität und Kraft, Angst und Mut.
Mitleid oder Mitgefühl? Es lohnt sich auf jeden Fall, genau hinzuspüren.
Ich wünsche dir ein gutes Gespür für dich selbst, für deine Möglichkeiten und deine Grenzen. Und da, wo es möglich ist, eine helfende Hand für Andere…
In diesem Sinne
Alles Liebe …
Deine Daniela
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