Die alten Schutzmauern

Auf dem Bild sieht man ein Stück Mauer und die Aufschrift Die alten Schutzmauern.


Die alten Schutzmauern

Die alten Schutzmauern.

Es ist schon ein paar Wochen her als ich abends nicht einschlafen konnte.

Irgendwas hielt mich wach. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere. Schäfchen zählen, bewusstes Atmen, Entspannungstechniken, nichts half.


Eigentlich war ich vorher müde gewesen, jetzt war ich hellwach. Dabei war es nicht einmal ein bestimmter Gedanke, der mich beschäftigte.

Ich versuchte, im Körper zu erfühlen, warum ich nicht schlafen konnte. Alles, was ich spürte, war eine starke körperliche Unruhe. Ich suchte weiter nach Erklärungen. Was hatte ich am Tag gemacht? Zuviel im Internet unterwegs gewesen? Nicht mehr als sonst. Hatte mich irgendwas getriggert? Mit fiel nichts ein.

Mein Mann Thomas neben mir schlief längst tief und fest. Mittlerweile nervte mich das regelmäßige Atemgeräusch.

Irgendwann spürte ich den Wunsch, ihn zu wecken. Ihm von mir zu erzählen. Dass ich nicht schlafen kann. Ich wollte nicht länger alleine wach liegen. Damit ging es erst recht los. Die Unruhe wurde stärker. Jetzt konnte ich kaum noch still liegen. So würde das nie etwas werden mit dem Einschlafen.

Was sollte ich also tun? Sollte ich Thomas wirklich wecken? Nur um zu sagen, dass ich nicht schlafen kann? Das habe ich noch nie gemacht. Wenn ich ihn schon mal aus dem Schlaf geholt habe, gab es immer einen „triftigen“ Grund. Thomas mag es nicht besonders, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Genauso wenig wie ich!

Die Alternative war, in mein anderes Schlafzimmer auszuweichen. Also was jetzt?

Ich entschied mich für mein eigenes Schlafzimmer. Hatte keine Lust auf eine genervte Reaktion. Auf ablehnendes Verhalten. Dass ich mich erklären müsste oder ähnliches. Also ging ich rüber. Nun hoffte ich, dass ich schnell einschlafen würde.

Falsch gehofft! Die Unruhe ließ zwar tatsächlich etwas nach. Dafür wurde ich traurig!

Was denn nun schon wieder? Inzwischen war Mitternacht. Plötzlich empfand ich eine Riesen-Einsamkeit. Ich spürte ein grenzenloses Alleinsein. Es fühlte sich uferlos und quälend an.

Langsam wurde mir klar, was hier abging. Da stieg etwas aus der Tiefe empor. Etwas wollte gesehen, besser gesagt, gespürt werden. Etwas kam aus dem Unterbewusstsein hoch. Wir können uns den Zeitpunkt nicht aussuchen. Jetzt war es dran. Und es tat weh!

Und das nicht erst seit gestern. Mir wurde klar, dass es schon immer so war, dass ich, schon seit ich denken kann, alleine in einer Art Kokon sitze. Dass ich, schon seit ich denken kann, komplett unterkuschelt bin. Ich bin eins von fünf Kindern und liebevolle körperliche Zuwendung wurde mit „Verwöhnen“ gleichgesetzt. Und das war nicht vorgesehen. So fing das Vermissen von liebevollem Körperkontakt bereits sehr früh an, und um es auszuhalten musste ich beizeiten mit dem Fühlen aufhören.

In dieser Nacht spürte ich die alten Schutzmauern deutlich, die ich mir über die Jahre meines Lebens zugelegt hatte. Die Schutzpanzer, die ich um mein Herz, um meinen Körper, um mich selbst gebaut hatte. Sie ließen nicht zu, dass ich mich in dieser Nacht meinem Mann anvertrauen konnte. Ich weinte, weil ich mich so unfähig fühlte und weil es so körperlich spürbar war.
Dann geschah jedoch noch etwas anderes. Plötzlich wendete sich das Blatt. Mit den Tränen löste sich etwas. Mit dem Erkennen meiner eigenen Bedürftigkeit ließ der innere Druck nach. Es war nicht mehr uferlos. Ich erkannte, dass sich die Möglichkeit der Auflösung dieses inneren Dramas wie ein Weg vor mir ausbreitete. Ich würde Thomas morgen erzählen, was gerade geschehen war. Ein Vorsatz, der mich endlich zur Ruhe brachte.

Es dauerte nicht mehr lange und ich schlief ein.

Am nächsten Tag ging es mir nicht gut. Ich fühlte mich unpässlich, mir war schwindelig und ich musste eine Verabredung für den Tag absagen. Am Abend sprach ich mit Thomas über mein Erleben in der vergangenen Nacht.

Ich wagte es, mich anzuvertrauen. Probierte „Vertrauen“ aus. Machte mich sichtbar für Thomas. Ich konnte ihm von mir und meinem schmerzlichen Bedürfnis nach Nähe erzählen. Selbstverständlich hatte auch er einiges zum Thema beizutragen. Es war ein gutes und nährendes Gespräch.

Weil wir das schreckliche Vermissen der unerfüllten Grundbedürfnisse anders nicht überlebt hätten. Wir mussten uns wegfühlen, weil es so unerträglich war, mit unserem Bedürfnis nach Nähe ins Leere zu laufen. Und das an jedem Tag unserer Kindheit.

Darum errichten wir die dicken Mauern um uns herum so früh und vergessen irgendwann, dass sie immer noch da sind. Das Gefühl, alleine in unserem kleinen Kokon zu sitzen wird allmählich zu unserem „normalen“ Lebensgefühl.

Schau ich mich um, erlebe ich viele Menschen, denen es ähnlich ergeht. Es sind besonders Frauen, die niemandem „zu viel“ sein wollen. Frauen, die sich ihrem Partner, ihren Kollegen, ihren Kindern, ja, die sich der Welt nicht „zumuten“ möchten. Sie sind Meisterinnen im Anpassen. Sich der Welt zuzumuten erfordert – wie das Wort schon sagt – Mut. In der kreativen Therapie spricht man diesbezüglich gerne vom „Mut, sich zuzumuten“.

Und so sitzen wir alle in unseren Kokons hinter dicken Schutzmauern und wundern uns, dass wir so wenig echte körperliche Nähe erfahren. Gerne schieben wir die Ursache unserer Einsamkeit dann auf andere oder auf die Umstände.

Wie schon oben beschrieben, brauchten wir die Schutzmauern über lange Zeit zum Überleben. Irgendwann jedoch verhindern sie, dass wir mit der Tiefe des Lebens in Berührung kommen. Sie verhindern genau das Maß an Nähe, nach dem wir uns so sehr sehnen. Die Nähe, welche wir so schmerzlich vermissen, hat keine Chance zu uns durchzudringen. Die dicken Mauern verhindern echte Intimität zwischen Partnern. Und nicht nur zwischen Partnern, auch zwischen mir und allen anderen Mitmenschen. Selbst zu unseren Kindern ist nur so viel liebevolle Zuwendung möglich, wie durch die Mauerritzen passt.

Und noch mehr: Die Schutzmauern stehen wie eine Festung zwischen mir und dem unendlichen Feld der Liebe.

Typische Symptome sind:

  • Lediglich oberflächliche Beziehungen
  • Chronisches Misstrauen
  • Körperliche Beschwerden wie Herzstolpern, Enge in der Brust, Atembeschwerden und weitere Phänomene des Hals- und Brustbereiches
  • Ambivalente Wünsche nach Nähe und Distanz
  • Entweder übersteigertes Verlangen oder kein Verlangen nach Sexualität
  • Sich auch unter Menschen einsam fühlen

Und was können wir tun, damit die Schutzmauern bröckeliger werden?

Das Wissen, dass unsere Eltern es nicht besser verstanden haben und vermutlich ihr Bestes gegeben haben, hilft nur bedingt.

Wenn wir uns immer wieder tief mit uns selbst verbinden, werden wir an irgendeinem Punkt an die selbst errichteten Mauern stoßen. Nur wenn wir diese Mauern aufspüren, kommen wir in die Lage, sie nach und nach abzubauen. Darum ist alles, was uns in die Selbstverbindung bringt, enorm hilfreich.

  • Traumasensibles Yoga und Meditation führen uns sicher in die Selbstverbindung
  • Wenn Zustände allzu unerträglich werden, hilft es, sich immer wieder zu erden.
  • Sich anderen anvertrauen. Das fällt anfangs besonders schwer.
  • Allmähliches Zulassen von Berührung durch andere. Hier ist es wichtig, die eigene Abwehrhaltung zur Kenntnis zu nehmen. Nur dann können wir Veränderungen in unserem Körperbewusstsein wahrnehmen.

Der Weg verläuft zwischen „Selbst-Behutsamkeit“, „Selbst-Mitgefühl“ und „Alles auf eine Karte setzten“. Hilft ja nichts. Wir müssen das Leben riskieren, wenn wir nicht hinter den Schutzmauern stecken bleiben wollen. Nur wenn wir die alten Schutzmauern Stück für Stück abtragen, können wir in die Liebe kommen und über uns selbst hinauswachsen.

Ich wünsche dir, dass du immer mehr deine persönlichen Mauern aufspüren und in kleinen Schritten abbauen kannst. Außerdem wünsche ich dir viel Mut, dich der Welt zuzumuten und liebevolle Menschen um dich herum, die dich unterstützen.

Alles Liebe für dich,

Deine Daniela


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