Falsch gemacht! – Von der Angst, Fehler zu machen
Falsch gemacht! – Von der Angst, Fehler zu machen.
Ich bin mit dem Fahrrad gefallen. Aua! Meine erste Reaktion war, mich umzuschauen, ob es jemand gesehen hat. Niemand da. Gott sei Dank!
Ich machte eine Bestandsaufnahme, ob mir etwas passiert war. Voll mit dem Oberschenkel auf den Lenker, dann mit dem Ellbogen auf den Asphalt geknallt. Mist! Ein Loch im Ärmel. Das gibt Schimpfe. Mindestens! Schürfwunden an beiden Handflächen.
Ich war etwa acht Jahre alt und hatte mir aus ein paar Holzscheiten einen Radfahrparcours gebaut. Beim Hindurchfahren hatte ich die Kurve zu eng genommen. War unvorsichtig. Vielleicht auch zu schnell gefahren. Mir traten Tränen in die Augen. Tränen des Schreckens, der Schmerzen und – und das war das Schlimmste – Tränen der Scham.
Ich hatte etwas falsch gemacht.
Und jetzt wollte ich einfach nur, dass es niemand gesehen hat, weil ich mich so sehr schämte. Und weil ich ein „Selber schuld“, „Das kommt davon, wenn du nicht aufpasst“ oder sogar eine Bestrafung in diesem Moment nicht ertragen hätte. Von meiner Familie war nichts anderes zu erwarten.
Es könnte aber noch schlimmer kommen
Noch schlimmer wäre allerdings die mitfühlende Frage eines Fremden gewesen, ob ich mir wehgetan hätte? Das wäre einfach zu peinlich gewesen. Trost war nichts, womit ich hätte umgehen können. Und so wischte ich mit dem Ärmel die Tränen weg und riss mich zusammen, bevor ich ins Haus ging. Dabei tat ich so, als wäre nichts gewesen.
Das alles ist viele Jahre her.
Gelernt ist gelernt!
Bis heute fällt es mir schwer, mir zu erlauben, in einem Fehler, den ich gemacht habe, etwas Positives zu erkennen. Zu tief sitzen die reglementierenden Erfahrungen, die, scheinbar vom ersten Tag meines Lebens an, wie in Stein gemeißelt, festlegen, was passieren darf und was besser nicht. Jede Form von Unachtsamkeiten, Irrtümern oder Fehlverhalten gehörte zur Kategorie „besser nicht“.
Beschämung und Vorwürfe als Mittel der Wahl
Innerhalb meiner Herkunfts-Sippe war eine solche Ungeschicklichkeit wie oben beschrieben, gleichzusetzen mit der Aufforderung, dass bitte alle ihren Senf zu dem Vorfall dazugeben mögen. Jede/r darf sich austoben, sich selbst wiegend in der fragilen Sicherheit, dass nicht er/sie sich so „dumm angestellt“ hat wie ich. Das ging dann jeweils so lange, bis jemand anders sich eine Panne leistete.
Um zukünftige Fehler zu vermeiden, waren Beschämung, Bestrafungen oder Vorwürfe die Mittel der Erziehungs- Wahl. Es war zu der Zeit immer noch ein gängiges Umgangsmuster, welches ich auch in anderen Familien beobachten konnte. Das gab es nicht nur bei uns.
Wie war es bei dir?
Vor anderen etwas falsch zu machen, war mir mein Leben lang unerträglich peinlich. In der Schule eine falsche Antwort geben, auf dem Kindergeburtstag Verliererin im Spiel sein, später als Jugendliche die falschen Klamotten tragen und so weiter. Die Liste ist endlos. Vielleicht kennst du das auch.
Falsch gemacht! Ich bleibe alleine mit meinem vermeintlichen Fehler
Was passiert mit mir, wenn ich etwas „falsch“ mache und andere sich darüber amüsieren oder unmittelbar klarstellen, dass ich „Selber schuld“ bin? Ich bleibe alleine mit meinem vermeintlichen Fehler. Ich bleibe allein mit meiner Scham. Um nichts in der Welt möchte ich noch einmal Schuld an etwas sein. Basierend auf der Angst, etwas falsches zu tun, werde ich über die Jahre verbissen und perfektionistisch.
Irgendwann höre ich auf, mich an etwas Neues zu wagen, weil ich es einfach nicht aushalte, den Vorwürfen oder dem Spott derer ausgesetzt zu sein, die ihren innewohnenden Entdeckergeist schon vor langer Zeit zu Grabe getragen haben. Auf diese Weise werden wir auf eine subtile Art klein gehalten von Menschen, die ihre Träume und Visionen im Laufe ihrer eigenen Geschichte ans Kreuz genagelt haben. Es vermutlich mussten.
Es geht in Fleisch und Blut über, dass schon bei kleineren Fehlern in sensiblen Bereichen die Qualität eines Weltuntergangs- Gefühls an uns herangetragen wird. Und weil wir unter Umständen über lange Zeit nichts anderes kennen, machen wir es zu unserem Gefühl.
Dann geht es nicht mehr darum, vielleicht etwas falsch gemacht zu haben, dann fühlen wir uns als wären wir selbst falsch.
Ein Angriff auf unsere Würde
Wenn andere Menschen im Moment eines Missgeschicks unsere Situation ausnutzen, um sich selbst als „besser“ abzugrenzen, ist das ein klarer Angriff auf unsere Würde. Es beschämt uns! Beschämen bedeutet, dass die feinen Grenzen unserer Scham mutwillig überschritten werden. Das ist unerträglich! Das kann zur Folge haben, dass unsere persönliche Schamgrenze völlig verwischt. Wir spüren sie nicht mehr. Unsere Wahrnehmung wird verzerrt. Wir lernen allmählich, unser Schamgefühl so tief in uns einzukapseln, dass wir den Zugang dazu unter Umständen ganz verlieren. In dem Fall besteht – neben einigen anderen Folgeerscheinungen – die Gefahr, dass wir unsere eigenen Erfahrungen, ohne es zu wollen, an die nächste Generation weitergeben.
Was wir bei alldem nicht lernen
Was wir bei alldem nicht lernen, ist, den Wert der gemachten Erfahrung zu erkennen. Der komplette Focus liegt auf dem Missgeschick, nicht auf der Erfahrung, die darin steckt. Dabei ist die Erfahrung das, was ich mitnehmen könnte aus dem, was passiert ist. Das Lernen durch Erfahrung ist so viel wirksamer und nachhaltiger als das Lernen aus Büchern. Und es muss keineswegs bitter sein. Die Erfahrung an sich ist in den seltensten Fällen bitter, die Reaktionen der Umgebung machen sie allerdings fast immer zu einem bitteren Erlebnis.
Was wir auch nicht lernen, wenn wir allzu oft beschämt oder für irgendwas bestraft werden ist, für das gerade zu stehen, was durch uns passiert. Lies hierzu auch gerne den Artikel „Wie können wir mehr Wahrhaftigkeit leben?“
Wenn unsere Scham nicht zulässt, dass wir die Verantwortung für einen Fehler übernehmen, für etwas, das wir verursacht haben, vertuschen wir, was möglich ist und winden uns so lange, bis niemand mehr erkennt, was da eigentlich geschehen ist. Es fühlt sich geradezu vernichtend an, zuzugeben, dass mir etwas passiert ist, was anderen Schaden zugefügt hat. Das ist übrigens ein weit verbreitetes Phänomen in der Politik.
Wenn wir neue Wege beschreiten wollen, werden wir gehalten sein, die alten Muster und Verletzungen in uns aufzuspüren.
Wir brauchen einen Erfahrungsrahmen
Wir Menschen brauchen von Anfang an einen Erfahrungsrahmen. Diesen Rahmen setzen zuallererst die Eltern. Es gibt allerdings immer noch viele Eltern, die sich bei einem Fehler, den ihr Kind gemacht hat, fühlen, als hätten sie selbst an ihrem Kind etwas falsch gemacht. Da beherrschen dann Scham, Eitelkeit und/oder Hilflosigkeit die gesamte Situation. Für das Kind kaum auszuhalten, denn kein Kind möchte seine Eltern in einen solchen Gefühlsstrudel bringen. Kinder brauchen Eltern, die eine Niederlage des Kindes nicht als ihre eigene Niederlage erleben. Nur dann können sie es wertfrei durch den Erfahrungsprozess begleiten.
Ich behaupte, dass der Erfahrungsrahmen, den die Eltern setzen, für lange Zeit der wirkungsstärkste Parameter für die Kinder ist. Er prägt! Um positiv wirksam zu sein, muss dieser Rahmen, in dem sich die Kinder ausprobieren dürfen, ihnen Schutz bieten. Schutz und Verständnis. Besonders bei schmerzhaften Erfahrungen. Wir brauchen Eltern, Großeltern, LehrerInnen, ErzieherInnen und FamilienhelferInnen, die verstehen, dass ein gesundes Kind ein hohes Maß an Entdeckergeist und Forschungsdrang spürt. Dem muss es, wenn es sich gut entwickeln und mit seiner kreativen Intelligenz im Kontakt bleiben soll, täglich nachgeben dürfen. So könnten neue Generationen heranwachsen. Junge Menschen die sich trauen, beherzte Entscheidungen zu treffen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. In meinen Augen Kernkompetenzen für die Zukunft.
Falsch gemacht! Wenn der Entdeckergeist verloren geht
Wenn uns im Laufe unserer Kindheit der innewohnende Entdeckergeist verloren geht, geht die Lebensfreude nicht selten mit verloren. Das bestätigen die vielen Angsterkrankungen und andere mentale Leiden in unserer Zivilisation.
Wie bist du diesbezüglich mit dir selbst unterwegs?
In unserer vergleichenden, und alles bewertenden Kultur gibt es wenig Raum für Fehler und Irrtümer. Das erleben wir durch unser ganzes Leben hindurch. In der Schule kann ein Fehler an einer strategisch wichtigen Stelle dir viele Wege versperren und wenn du versehentlich in einem Antragsformular etwas falsch ausfüllst, drohen dir Strafen unterschiedlichster Art.
Das alles ist bitter, weil so viel Menschlichkeit und so viel Kreativität dabei auf der Strecke bleiben. Manche Menschen laufen ihren Wünschen und Träumen ein Leben lang hinterher, weil sie sich aus Angst vor Fehlern nicht trauen, über ihre – häufig vierl zu eng gesetzten – Grenzen zu gehen. Es wird zu viel auf „sicheren Wegen“ gegangen. Zu wenig riskiert.
Das „Fehler machen“ wieder lernen
Ich halte es für wichtig, dass wir das „Fehler machen“ ganz bewusst wieder lernen. Das geht übrigens in jedem Alter. Dazu brauchen wir HelferInnen, denen wir vertrauen können. Es sollten möglichst Menschen sein, die in der Lage sind, sich selbst Fehler zu erlauben und diese sich und anderen auch einzugestehen. Um wirklich zu lernen, mit Niederlagen und persönlichen Fehlentscheidungen konstruktiv umzugehen, brauchen wir jemanden, der uns den Raum hält. Verständnis für unsere Gefühlslage zeigt. Wir brauchen jemanden, der in der Lage ist, in dem Moment unseres persönlichen „Weltuntergangs“ die eigenen Befindlichkeiten nicht in den Vordergrund zu stellen. Wir brauchen Mitgefühl und Anteilnahme. Von anderen, aber vor allem von uns selbst.
Wie wäre es, wenn du heute einmal etwas neues wagst. Einfach mal etwas machen, was du noch nie gemacht hast. Und wenns schiefgeht? Na und?
In diesem Sinne
Alles Liebe
Daniela
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