Herbstzeit ist Erntezeit

Auf dem Bild befinden sich Hände, die Äpfel halten. udn der Schriftzug Herbstzeit ist Erntezeit.


Herbstzeit ist Erntezeit

Herbstzeit ist Erntezeit

Schau dich um. Die Natur macht es uns vor. Sie beschreibt deutlich, dass nach einem Frühjahr, in dem Erneuerung im Vordergrund steht und einem Sommer, der Wachstum bedeutet, der Herbst die Erntezeit im Jahreskreis ist.


Wie ist es also mit dem Lebensherbst?

Wann beginnt er? Und woran merke ich, dass ich bereits im Herbst meines Lebens angekommen bin? Was bedeutet Lebensherbst überhaupt? Und was gibt es da zu ernten?

So viele Fragen. Durch den Frühling und häufig auch durch den Sommer unseres Lebens gehen wir mit dem Gefühl, für alles, was wir tun möchten, noch genügend Zeit zu haben.

Wie kommen wir darauf?

Wir baden in diesem Never-ending-Lebensgefühl, weil wir uns üblicherweise an der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen in diesem Land orientieren. Neugeborene Jungen haben derzeit bei uns eine durchschnittliche Lebenserwartung von 78,2 Jahren, bei den Mädchen liegt sie bei 83 Jahren (Werte: Statistisches Bundesamt). Diese Zahlen suggerieiren uns, dass wir im Alter von etwa dreißig Jahren noch jede Menge Zeit haben, um unsere diversen Wünsche zu erfüllen. Der Weg, der sich vor uns ausbreitet, scheint noch lang.
Wir möchten vielleicht ein Haus bauen? Wenn wir dreißig sind, steht dem nichts im Weg. Sind wir doppelt so alt, sieht die Sache anders aus. Da stellen wir uns vielleicht die Frage: Lohnt sich das noch? Oder: Bekomme ich überhaupt noch einen Kredit, um den Traum zu verwirklichen?

Das Empfinden für Zeit erscheint mit einem Mal ganz anders an als früher. Aus dem Gefühl, für alles, was ich noch tun möchte, genügend Zeit zu haben erwächst irgendwann der Eindruck, dass die Frist knapp wird für all das, was noch auf dem Wunschzettel des Lebens steht. Aber wann ist diese Veränderung geschehen?

Den Kipppunkt an dem das Eine ins Andere umschlägt, merken wir oft nicht. Er kommt ja auch nicht für alle Menschen zum selben Zeitpunkt. Eines Morgens beim Blick in den Spiegel sehe ich ein paar neue Falten um die Augen, die bis gestern noch nicht da waren (oder doch?) oder ich bemerke, dass ich aus dem Schneidersitz nicht mehr einfach so hochkomme. Plötzlich ist es da. Das Gefühl, irgendwie alt zu sein. Und alt klingt erstmal uncool. Sicher, wir möchten alle alt werden, aber alt sein wollen wir nicht.

Ich möchte mich nicht daran beteiligen, irgendwas schönzureden. Sechzig ist nicht das neue Dreißig. Allerdings möchte ich ebenso wenig die herkömmlichen Vorstellungen vom Altern unterstützen. Das Altern wird in unserer Kultur immer noch nahezu ausschließlich defizitär gesehen.

Wir sind in unserer Kultur auf eine bestimmte Weise konditioniert. Wir bekommen schon in jungen Jahren mitgeteilt, was schön, was nicht schön, und was möglicherweise unattraktiv zu sein hat. Begriffe wie „makellose Haut“, „volles Haar“ oder „sportliche Figur“ begegnen uns in ganz unterschiedlichem Kontext immer wieder. Diese Merkmale werden uns als höchst erstrebenswert angepriesen. Wie sollen wir unter diesen Umständen unsere Lebens- Herbstzeit würdigen können?

Einen wichtigen Aspekt sollten wir bei alldem nicht übersehen: Die gerade beschriebenen Attribute beziehen sich tatsächlich ausschließlich auf das, was wir mit den Augen sehen können. Warum messen wir dem so viel Bedeutung bei? Soll das wirklich immer noch unser Kriterium sein? Es sagt nichts über uns als spürenden Menschen aus, über unser tiefes Mitgefühl, unsere Hingabe an das Leben, oder die Liebe, mit der wir uns selbst und anderen begegnen.

Und obwohl wir die Attribute der Jugendlichkeit von allen Seiten regelrecht als Maßstab indoktriniert bekommen, wissen wir genau, dass es vergängliche Merkmale sind. Nichts von der Makellosigkeit der Haut wird ewigen Bestand haben. Die sportlichste Figur und auch das vollste Haar sind vergänglich. DAS WISSEN WIR!

Hätten wir Augen, mit denen wir uns selbst und andere ganzheitlich betrachten könnten, würden wir bei den meisten älteren Menschen eine viel größere Vollkommenheit, ich behaupte sogar eine viel größere Schönheit erkennen, als dies bei jüngeren Menschen der Fall ist. Schon öfter habe ich Porträtfotos von alten Menschen bestaunt.

Im Alter verstärkt sich das, was wir im Laufe unseres Lebens ausgedrückt haben.

Da ist bei vielen eine regelrecht kraftvolle Schönheit zu sehen. Wir werden zu einer Art sichtbarem und definitiv unverwechselbaren Fingerabdruck unserer Selbst.

Im Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry heißt es, dass das Wesentliche für die Augen unsichtbar ist… wie wahr!

Wenn es uns gelingt, die Ambivalenz, die das Älterwerden mit sich bringt, in vollem Umfang anzunehmen, haben wir einen großen Schritt geschafft. Beides – Trauer um die vergehende Jugend und Freude über neue Möglichkeiten – dürfen nebeneinander einhergehen. Herbst- und Erntezeit gehen Hand in Hand. Herbstzeit bedeutet auch vergehen, Erntezeit jedoch bedeutet Fülle. Hier gibt es kein entweder/oder. Beides begleitet uns von nun an.

Plötzlich ist er da, der Tag, an dem es wirklich bei mir ankommt, dass es keinen Weg zurück in die gestrigen Umstände gibt. Sowas tut weh! Ich sollte nicht einfach darüber hinweggehen. Oder so tun, als wäre nichts. Traurigkeit und Wehmut zu erlauben und zu spüren sind das Mittel der Wahl, wenn ich das, worum ich trauere, loslassen möchte. Die erwachsen gewordenen Kinder, die nicht mehr klein werden. Das kastanienbraune Haar, in dem die ersten grauen Strähnen schimmern. Vielleicht den Leistungssport, der nun in ein regelmäßiges moderates Ausdauertraining mündet. Auch die Trauer um die liebe Freundin, die in diesem Jahr verstorben ist, möchte gefühlt werden. Erst dann kann ich sie wirklich loslassen.
Loslassen wird es am Ende sowieso sein. Loslassen im großen Stil. Darum kann ich auch jetzt sofort damit anfangen. Es hilft übrigens sehr, wenn wir auf dem Schirm haben, dass das mit dem Loslassen nicht mit einem Mal getan ist. Loslass-Prozesse dauern ihre Zeit. Da geht nichts schnell. Und das muss es auch nicht.

Das kann sich anfühlen, wie ein Buch, welches endgültig zugeklappt ist. Ein Buch, in dem ein Teil meiner Lebensgeschichte geschrieben steht. Mein Werden und Wachsen, vom Leben selbst dokumentiert. Das neue Buch, in dem der Herbst seine Geschichte erzählen möchte, liegt noch unbenutzt vor mir. Wenn wir es mit neuen Geschichten füllen möchten, tun wir gut daran, die alten Zöpfe würdigend zu verabschieden.
Das Gute ist: Auch in unserem neuen Buch geht es um Werden und Wachsen. Es verlagert sich lediglich von den sichtbaren äußeren Aspekten zu einem tiefen inneren Wachstum. Eine Art Wachstum, welches die Zeit überdauert.

Wir sprechen gerne vom Kreis des Lebens.

Ein Kreis hat bekanntlich kein Ende.

Und so hat auch das Leben selbst kein Ende. Das Entstehen und vergehen wird weitergehen. Und darin sind wir weiterhin eingebettet. Darin sind wir geborgen. Wir stecken da ganz und gar drin. Sonst wären wir nicht. Wir sind aber! Ich bin. Du bist.

Es ist so wertvoll, den Kreis des Lebens vollständig zu akzeptieren. Zu erkennen, dass wir auch mit dem Tod nicht aus dem großen Kreislauf des Lebens herausfallen. Wenn uns das gelingt, dürfen wir beherzt zugreifen, wenn mit der Herbstzeit die Erntezeit gekommen ist. Möchten wir reich ernten, ist es unumgänglich, dabei den Focus von der äußeren Welt immer mehr auf unsere Innenwelten zu legen. Nur, wenn wir dazu bereit sind, können wir den inneren Reichtum schauen. Und annehmen.

Um welche Art Reichtum (und Ernte) handelt es sich denn eigentlich?

Es handelt sich in erster Linie um das Unvergängliche. Das Göttliche, was wir tief in uns finden, wenn wir in unsere Stille gehen. Es handelt sich um das Große, das Höhere. Das unendliche Feld, aus dem wir kommen und in das wir zurückgehen werden, wenn es so weit ist. Wenn der Kontakt zur tiefen Stille in uns stark und stabil ist, wenn wir regelmäßig dorthin gehen, schlägt sich das in unserem kompletten Erleben nieder. Dann erkennen wir immer deutlicher das, was am Ende bleibt. Das wiederum führt uns in eine immer größere Gelassenheit. Wir erkennen den Lebensanteil in uns immer deutlicher, der unsterblich ist.

Mit der Gewissheit einer inneren Unsterblichkeit können wir dann unsere Lebens-Herbstzeit und die damit verbundene Erntezeit gestalten. Es tut unglaublich gut, aus den vielen Wettbewerben auszusteigen. Ich darf mich hineinlehnen in das Höhere. Möchte endlich damit aufhören, mich selbst auf den eigenen Schultern zu tragen. So hat es Rabindranath Tagore in seinen Versen Gitanjali (Vers 9) ausgedrückt. Ich muss keine ehrgeizigen Ziele (die sich möglicherweise andere für mich ausgedacht haben) mehr erreichen. Stattdessen erinnert sich mein Körper daran, Teil der Natur zu sein und ich entschließe mich, ihm zu folgen und mehr mit der Natur zu gehen. Heute nehme ich den Feldweg. Und genieße jeden Schritt… Ich bin! Und das bleibt!

Ich wünsche dir eine wunderbare Herbstzeit im Jahreskreis und im Leben.

Alles Liebe …

Deine Daniela

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